Über den Aufstieg eines afroamerikanischen Tanzes und die Barrieren des Rassismus.
Wie der Großteil der Swing Tänze, entstand auch der Lindy Hop nicht in Tanzschulen, sondern im Rahmen der Alltagskultur der black community. Doch wie sah der Alltag von Afroamerikanern jener Tage aus? Die Swing Ära bezeichnet eine Epoche, in der sich Afroamerikaner von der herrschenden white supremacy emanzipierten. Sie waren stolz auf ihre afrikanischen Wurzeln und drückten dieses neue Selbstbewusstsein in verschiedenen Kunstformen aus. Eine afroamerikanische Kulturrevolution entstand, die sogenannten Harlem Renaissance, und mit ihr eine Vielzahl an literarischen und künstlerischen Werken. Insbesondere die Musik und der Tanz entwickelten sich zu afroamerikanischen Kulturgütern, die später von allen Amerikanern gefeiert wurden.
Kapitel 1: „Separate but Equal“ – Das Leben in der Swing Ära
Mit der Abschaffung der Sklaverei (1865) schien der Kampf um die Gleichstellung der Afroamerikaner gewonnen zu sein, doch auch zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren sie immer noch Bürger zweiter Klasse. Nach einer kurzen Phase der Gleichberechtigung, wurde 1896 die sogenannte Separate but equal Doktrin eingeführt. Diese trennte bis in die Zeit der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre viele Bereiche des alltäglichen Lebens von weißen und schwarzen Amerikanern. Vor allem in den ländlichen Gebieten der Südstaaten, wo Ende des 19. Jahrhunderts die meisten Afroamerikaner lebten, herrschten prekäre Lebensumstände. Sie mussten separate Krankenhäuser, Schulen, öffentliche Verkehrsmittel, Wasserspender oder Toiletten nutzen. Diese Einrichtungen sollten, laut dem Grundsatz „Separat but Equal“ sein, waren es aber hinsichtlich ihrer Qualität oft nicht.
The Great Migration
Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben zogen zwischen 1910 und 1930 etwa 1,6 Millionen Afroamerikaner in die Stadtgebiete des Nordens. In den Nordstaaten, wie beispielsweise in New York, herrschte zumindest keine offizielle Rassentrennung. Zudem gab es hier bessere Chancen auf Bildung und auf sozialen Aufstieg, als es im Süden der Fall war. Doch auch im Norden existierte die sogenannte „color line“. Afroamerikaner mussten auch hier von Weißen getrennt leben. Gleichzeitig wurde der Wohnraum durch die große Nachfrage knapp. Die Mieten waren teuer, selbst in heruntergekommenen Stadtteilen. So entstanden Ghettos.
The Great Depression
Zudem gab es sehr wenig Arbeit, was die Lage zusätzlich erschwerte. Denn die Swing Ära ist ebenso die Phase der „Great Depression“. Mit dem New Yorker Börsenkrach, dem Schwarzen Donnerstag am 24. Oktober 1929 begann die bis dahin schwerste Wirtschaftskrise der Vereinigten Staaten. Der Verkauf landwirtschaftlicher Produkte brach um die Hällfte ein und traf Bauern besonders hart. Jeder Vierte war arbeitslos und viele verloren dadurch ihr Hab und Gut. Die Krise verursachte nicht nur in den USA Hunger und Obdachlosigkeit, sondern wirkte sich weltweit auf den Lebensalltag der Menschen aus. Erst gegen Mitte der 1930er ging es mit der wirtschaftlichen Lage in den Vereinigten Staaten wieder bergauf.
Kapitel 2: House Rent Partys – Tanzen gegen die Depression
Durch die große Zuwanderung aus dem Süden wandelten sich nördliche Großstädte, wie New York oder Chicago, und bestimmte Viertel waren nun durch die black community geprägt. Dies galt insbesondere für Harlem. Mitte der 1930er Jahre war Harlem der Stadtteil mit der höchsten Bevölkerungsdichte New York Citys und zudem eine Wiege der afroamerikanische Kultur. Die Wohnsituation war jedoch schwierig. Auch hier waren Jobs Mangelware und die Wohnungen sehr klein. Hinzu kam, dass Afroamerikaner aus dem Süden zugewanderte Verwandte und Freunde aufnahmen, wodurch oft viele Personen auf engem Raum lebten.
Hohe Mieten
Das größte Problem war jedoch die hohe Miete, denn bis zu den 1930ern gab es keine offizielle Regelung der Mietkosten. Afroamerikaner mussten etwa die Hälfte ihres Jahreseinkommens für die Miete aufbringen, welches durchschnittlich etwa bei 1.300$ lag. Im Gegensatz dazu besaßen weiße Familien in Harlem ein durchschnittliches Jahreseinkommen von 1.600$, hatten jedoch nur ein Viertel davon an jährlichen Mietkosten.
Not macht erfinderisch
Um die hohen Mieten bezahlen zu können, veranstalteten Afroamerikaner House Rent Partys. Es gab Livemusik von Pianisten oder Bands und es wurde der getanzt. Man lud den Freundes- und Bekanntenkreis ein und jeder Gast bezahlte jeweils einen Vierteldollar für Eintritt, Getränke und zubereitete Speisen. Durch das eingenommene Geld konnte man wiederrum die Musiker und die eigene Miete bezahlen. Diese Partys waren vor allem bei Afroamerikanern beliebt, die neu in Harlem waren. Hier konnte man alle sozialen Schichten wiederfinden, von der Arbeiterschicht bis zur sozialen Elite.
Auch Norma Miller, eine der bekanntesten Profi-Tänzerinnen dieser Zeit, begann das Tanzen auf House Rent Parties, wie sie hier im Interview (bei 2:00) erzählt.
Kapitel 3: Der Lindy Hop – Eine Perle der Harlem Renaissance
Die Harlem Renaissance war eine künstlerische und literarische Bewegung der 1920er/30er Jahre. Zum ersten Mal wurde afroamerikanischer Kunst jenseits der weißen Unterdrückung eine Identität gegeben. Die erschaffene Kunst war ein Ausdruck des Stolzes schwarz zu sein. Finanziert wurden die Schriftsteller, Maler und Musiker ironischerweise von der kulturaffinen weißen Mittel- und Oberschicht. Beispielsweise sorgten sie durch ihre Stellung und ihren Reichtum dafür, dass schwarze Musiker vor großem Publikum spielten. Dadurch gewann der Jazz auch außerhalb der black community schnell an Beliebtheit.
Schillerndes Nachtleben
„Slumming“ Ein Begriff, der in der damaligen Zeit, das in Mode gekommene Ausgehen in Harlems populären Bars und Tanzsälen bezeichnete, dem auch etwas Exotisches anhaftete. Es kann als „auf die Kiez gehen“ übersetzt werden, wobei das Wort durch seine Ableitung von „slum“ negativ belegt ist.
Insbesondere wegen der Musik strömten weiße Besuchermassen in das schwarze Harlem. Hier bekam man den New Yorker Big-Band-Stil zu hören, der von Ikonen wie Cab Calloway, Chick Webb, Jimmy Lunceford oder Count Basie arrangiert wurde. Das „Slumming“ wurde Mode, wobei weiße Besucher durch die schillernden Clubs und Tanzlokale pilgerten und dabei immer mehr Geld dafür ausgaben. Die erschaffene Unterhaltungsindustrie bot vielen Afroamerikanern ein Einkommen. Während in diesen Lokalitäten afroamerikanische Musik gespielt und ihre Tänze, wie der Charleston oder der Black Bottom, dort getanzt wurden, hatten Afroamerikaner oft nur als Musiker oder Angestellte Zutritt. So wurde beispielsweise der „Vater des Blues“ und Komponist des „St. Louis Blues“, W.C. Handy, kein Zutritt zu Jazzlokalen gewährt. Selbst dann nicht, wenn seine Songs auf dem Programm standen.
Kapitel 4: Der Savoy Ballroom – Eine Pufferzone des Rassismus
Es gab auch Ausnahmen zu diesen whites-only Etablissements. Der erste Tanzsaal, der alle einließ und somit eine Pufferzone des Rassismus darstellte, war der Savoy Ballroom.
In diesem Zusammenhang erklärte Norma Miller in einem Interview:
„Damals galt noch überall im Land sehr strikte Rassentrennung. Und das war das erstaunlichste am Savoy: Es war das erste Haus in Amerika, das seine Pforten jedermann öffnete, egal ob schwarz oder weiß. Wir tanzten in einer heilen Welt. Die andere bekam ich erst mit, wenn ich den Ballroom verließ. Was das Tanzen betrifft, gab es für mich zunächst keine Rassentrennung.“
Auch für Frankie Manning, ebenso eine Tanzlegende der Swing Ära, stand das Tanzen im Vordergrund: „Wenn ich ins Savoy ging, habe ich nie daran gedacht, dass da Schwarze und Weiße hingingen. Ich dachte einfach, das sind Tänzer, die gehen in den Ballroom. Und egal ob man nun schwarz, grün oder gelb war, die einzige Frage, die sie dir im Savoy stellten, lautete: Kannst du tanzen?“
Am 12. März 1926 eröffnete der Savoy Ballroom. Der Historiker David Lewering Louise beschrieb ihn als ein „Phänomen des afroamerikanischen Selbstbewusstseins und seiner Kreativität“. Der Savoy, der auch als „Home of Happy Feet“ bezeichnet wird, nahm zwischen der 140th und 141st Street einen ganzen Häuserblock auf der Lenox Avenue ein und wurde von Weißen betrieben. Es gab zwei Musikkapellen, so dass die Musik nie zu spielen aufhörte. Aufgrund der vielen Besucher musste das Tanzparkett alle drei Jahre erneuert werden.
„Miscegenation“
Nicht nur, dass im Savoy schwarze wie weiße Amerikaner ein und ausgehen konnten, wie sie wollten, hier konnte auch jeder nach Belieben mit jedem Tanzen. Hier kam man sich körperlich nahe und tanzte miteinander, unabhängig von der Hautfarbe. Das ist für die damalige Zeit außergewöhnlich. Denn was heutzutage selbstverständlich ist, war, selbst im liberaleren Norden, gesetzlich verboten. Es gab staatliche wie gesellschaftliche Restriktionen für die Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen. Wegen sogenannter „miscegenation“ („Rassenmischung“), standen „Misch-Ehen“ als auch sexuelle Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen unter Strafe. Der Großteil der Gäste, als auch des Personals des Savoy Ballrooms, war afroamerikanisch und kam aus der Arbeiterschicht, die sich solche Freizeitvergnügen leisten konnten. Trotz allem waren Protestbriefe von besorgten Bürgern keine Seltenheit. In diesen wurde die „miscegenation“ kritisiert und die „gemischten“ Gäste wurden teilweise als „niggers“ und „white whores“ bezeichnet.
Band und TänzerInnen
In seinem 35jährigen Bestehen traten dort 250 Big Bands auf, unter anderem große Namen wie Cab Calloway, Duke Ellington und Benny Goodman. Letzterer verewigte den Savoy Ballroom in dem Lied „Stompin’ at the Savoy”. Die Hausbands des Savoy waren Chick Webb’s Orchestra und etwas später Al Cooper’s Savoy Sultans, zwei außergewöhnlich gute Bands, die einst von Count Basie als „the swingingest bands“ bezeichnet wurden. Die dynamische und kraftvolle Musik inspirierte die Tänzer und Tänzerinnen des Savoy. Durch den Breakaway, die Besonderheit des Lindy Hop, konnten die TänzerInnen durch ihre Soloparts auf die Improvisation der Musiker eingehen. Der Lindy Hop entwickelte sich durch dieses Zusammenspiel fortwährend weiter.
Kapitel 5: Der Lindy Hop und seine Stars – Afroamerikanische Vorbilder
Mit der Professionalisierung des Lindy Hop wurden Afroamerikaner zu Vorbildern und Medienstars.
George Snowden
Der Afroamerikaner George „Shorty“ Snowden, einer der ersten und besten Tänzer des Savoy, war in hohem Maße an der Kreation und der Entwicklung des Lindy Hop beteilig, der zwischen 1927 und 1928 entstand. Manche bezeichnen ihn sogar als den Erfinder des Lindy Hop, andere nur als dessen Namensgeber. „Shorty George“ war fast jeden Abend auf dem Tanzparkett des Savoys zu bewundern, gewann zahllose Lindy Hop-Wettbewerbe und wurde später zu einem professionellen Tänzer. Sein Früherer Rivale George Ganaway, der ebenfalls zu den Stammgästen des Savoy zählte, gehörte ebenso zur Tanzelite. Die beiden und einige Auserwählte galten als Tanzvorbilder und machten die Nordostecke des Savoy, den Cat’s Corner, zu ihrem Stammplatz. Snowden und Ganaway nutzen ihr Talent, professionalisierten ihr Können und traten Anfang der 30er Jahre gemeinsam auf diversen Partys auf und verdienten dadurch viel Geld.
Herbert White und Whiteys Lindy Hoppers
Eine weitere Person, die in Verbindung mit Lindy Hop und dessen späteren Professionalisierung steht, ist Herbert White. Er wird als dubioser Charakter beschrieben, ein ehemaliger Sergeant der Hellfighters im 1. Weltkrieg, der Gründer einer Gang namens Jolly Fellows und Türsteher des Savoy in den 30ern. Am 19. März 1935 kam es in Harlem für zwei Tage zu großen Unruhen. Laut Alain Locke, Philosoph und „Vater der Harlem Renaissance“, war Harlem zu einem „Tollhaus der Wurfgeschosse“ geworden, mit hundert Verletzten und einem Toten. Die New York Daily News veranstaltete daraufhin kurze Zeit später einen Tanzwettbewerb, den Harvest Moon Ball. Herbert White stellte dafür eine Gruppe von jungen Tänzern aus dem Savoy zusammen und trainierte sie. Drei Tanzpaare seiner Gruppe qualifizierten sich für das Finale im Madison Square Garden und belegten die ersten drei Plätze im Lindy Hop.
Die Monopolisierung des Lindy Hop
Aufgrund des Erfolges stellte White weitere Tanzgruppen zusammen, zu diesen gehörten unter anderem: Leon James, Billy Ricker und Willamae Ricker, Al Minns, sowie Frankie Manning und Norma Miller. So entstanden die Tänzerensembles: Whitey’s Lindy Hoppers, Whitey’s Hopping Maniacs und Jive-a-Dears. Herbert White hatte im Laufe der Zeit insgesamt 72 Tänzer unter Vertrag und in der Vermarktung des Lindy Hops eine Monopolstellung. Er studierte mit seinen Tänzern Shows ein, die nun auch spektakuläre Luftakrobatik (Aerials) beinhalteten. Der Lindy Hop wurde von Herbert White sehr erfolgreich in dieser Form vermarktet und wurde dadurch immer populärer. Die Tänzergruppen tourten national wie international und traten in Nachtclubs, Broadwaymusicals, Vaudeville-Theatern und Filmen auf. Die bekanntesten Auftritte der Whitey’s Lindy Hoppers sind die Tanzszenen in dem Marx Brothers Film „A day at the races“ (1937) und „Hellzapoppin“ (1941).
Der Lindy Hop wird weiß
Durch die zunehmende Popularität und den starken Einfluss der Massenmedien, wandelte sich der Lindy Hop ab 1936. Etwa gleichzeitig zu der Swing Vermarktung, die vor allem durch Benny Goodman ein breites Publikum erreichte, übernahmen viele weiße Jugendliche den Lindy Hop, den man nun auch vorwiegend als Jitterbug bezeichnete. Zu Anfang gab es vor allem von Erwachsenen entrüstete Kritik. Der Swing und das damit verbundene Tanzen wurde als „orchestrierter Sex“ und als „musikalisches Phallussymbol“ bezeichnet und als „Vergiftung der Massen“.
„Swing repräsentiert unsere Regression zum primitiven Klang der Trommeln, einem rhythmischen Klang der vor allem Wilden und Kindern zusagt. Er wirkt wie ein Beruhigungsmittel und lässt einen die Realität vergessen. Sie vergessen die Depression, den Verlust ihres Arbeitsplatzes…es ist als nähme man eine Droge.“ Dr. A.A. Brill, Psychologe aus Manhattan, 1937, Fernsehsendung
Vom Saulus zum Paulus
Die Veränderung des Lindy Hop wird besonders in den Medien deutlich. Am 14. Dezember 1936 erschien im Life Magazin der Artikel “At the Savoy with the boys and girls of Harlem”. In diesem wird der Lindy Hop mit abwertenden und rassistischen Begriffen beschrieben. Von „barbaric dancing“ und „jungle dance“, ist dort die Rede. Sieben Jahre später brachte das Life Magazin erneut einen Beitrag über den Lindy Hop. In der Ausgabe vom 23. August 1943 unterscheidet sich die Darstellung sehr von der vorherigen. Nun wird der Lindy Hop als ein amerikanisches Kulturgut beschrieben: „Originated by Americans inspired by American music“ und als „true national folk dance born in the USA“.
Das Ende der Whiteys Lindy Hoppers
Nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg 1941, lösten sich ein Jahr später auch Whiteys Lindy Hoppers auf. Denn einige der besten männlichen Tänzer aus Whites professioneller Tänzergruppe waren in die Armee eingezogen worden. Obwohl der afroamerikanische Ursprung des Tanzes immer weiter in den Hintergrund trat, waren die Tänzer des Savoy in ihrem Können immer noch führend. Dies schilderte John Martin, ein Tanzkritiker der New York Times jener Zeit, folgendermaßen:
„The white jitterbug is oftener than not uncouth to look at but his Negro original is quite another matter. His movements are never so exaggerated that they lack control there is a remarkable amount of improvisation mixed in with Lindy Hop figures. Of all the ballroom dancing these prying eyes have seen, this is unquestionably the finest.”
Die Kultur der Afroamerikaner, die in den 1920ern und 1930ern entstand, ist ein Meilenstein in der Emanzipationsbewegung der Afroamerikaner. Jenseits von weißen Vorbildern erschufen sich AfroamerikanerInnen eine eigene kulturelle Identität, die es so vorher nicht gab. Gleichzeitig stärkten sie dadurch auch die black community und ihre politische Kraft als gesellschaftliche Gruppe. Ihr Swing und ihr Lindy Hop wurden legendär und weltweit gefeiert. Dass der Lindy Hop später „weiß“ umgedeutet wurde, ist dabei ein Zeichen des Rassismus der damaligen Gesellschaft.