Um zu tanzen brauchen wir zwei Menschen – eine_n Leader und eine_n Follower. Zwei Rollen die vergeben werden möchten, damit ein Tanz funktioniert. Männer lernen dabei meist leaden, während Frauen folgen. Diese Geschlechterverteilung gilt in der Regel als „normal“ und wird selten hinterfragt. In der Swingtanz-Szene wird diese Rollenzuschreibung seit ein paar Jahren immer mehr aufgebrochen.
Als ich anfing mit Balboa war ich Follower. Ganz automatisch. Es war der erste Tanz den ich lernte und so richtig habe ich diese Rollendefinition gar nicht hinterfragt. Ziemlich schnell, gleich nach dem ersten Grundkurs, fing ich an zu leaden. Um genau zu sein habe ich auch das nicht hinterfragt. Ich wollte einfach nur die andere Seite lernen. Und war erstaunt auf wie viel Widerstand ich stieß. Fast jede Frau (männliche Follower gab es damals nicht), die im Kurs-Rundlauf auf mich zukam, wirkte zuallererst distanziert. Eine nach der Anderen rang sich ein müdes Lächeln ab: „Oh tanzt du heute den Mann?“ Meine Antwort war immer gleich: „Ich tanze kein Geschlecht“. Darauf folgte meistens ein Lachen. Und eine Erkenntnis. In der zweiten Woche wurde es dann besser. Frau kannte mich ja jetzt schon und so war ich keine unverhoffte Überraschung mehr. Wir gewöhnten uns aneinander. Spätestens in der dritten Woche hatten sich die Follower mit mir als weiblichem Leader abgefunden und ich wurde mit einem strahlenden Lächeln begrüßt.
Rollenwechsel für alle
Mittlerweile sind weibliche Leader in der Swing-Szene immer stärker vertreten. Und auch männliche Follower werden immer mehr. Die individuellen Motivationen dafür sind vielfältig.
Beide Rollen zu tanzen hilft auf jeden Fall ein besseres Verständnis für die_den Tanzpartner_in zu bekommen um damit die „eigene“ Tanzrolle zu verbessern. Viele Frauen entdecken ihre Vorliebe zum Leaden, weil sie so die Musik unmittelbarer interpretieren können. Für mich war dies damals zum Beispiel ein Hauptgrund die andere Rolle zu lernen. Wenn mich ein Song mitreißt, leade ich besonders gerne. Denn dann kann ich die Musik intensiver fühlen und mit Bewegungen füllen. Ich kann Tempi und Richtungen wechseln, wenn ich es in der Musik höre. Andere Tänzer_innen, wie Mareike aus Köln, lieben auch die Herausforderung: „Ich finde es als Leader besonders spannend neue Schritte im Unterricht zu lernen. Das Erfolgserlebnis ist dabei für mich größer. Als Leader muss man sich ja ebenso auf den anderen einstellen und es ist spannend die Eigenarten und Stile der Follower zu erkennen und darauf einzugehen.“ Für einige steht auch der praktische Vorteil im Vordergrund: Frau muss nun nicht mehr auf Leader-Jagd gehen oder auf einer der lästigen Follower-Warte-Listen ihr Dasein fristen, sondern kann frei entscheiden auf welche Workshops sie gehen möchte. Außerdem stehen einem doppelt soviel potentielle Tanzpartner_innen zur Verfügung.
Gehirn ausschalten und Repertoir erweitern
Inzwischen kenne ich viele Männer die gerne folgen, weil sie es schön finden „loszulassen“. Und sie stellen fast, dass folgen durchaus anspruchsvoll ist und nichts damit zu tun hat „einfach nur das Gehirn auszuschalten“. Balboa Tänzer Lars mag die Herausforderung, ebenso wie den größeren Spielraum an Variationen: „Für mich ist es aufregend zu folgen, weil ich nie sagen kann was passieren wird. Außerdem kann ich einfach auf ein breitgefächertes Repertoire zurückgreifen. Das ist für mich so wie zwischen Uphold und Downhold zu wechseln. Genauso kann ich zwischen Lead und Follow switchen. Ich entscheide mich immer wieder dafür was ich will.“
Kulturell geprägte Rollenbilder
Historisch bedingt waren weibliche Leader von Anfang an nicht ungewöhnlich. Da zu Kriegszeiten Männer Zuhause Mangelware waren, tanzten Frauen öfter auch mit Frauen. Im allgemeinen wurde dieser Umstand akzepiert – ohne homophobe Gedanken nach sich zu ziehen. Deshalb wundert es nicht, dass sich weibliche Leader einfacher, beziehungsweise ohne schiefe Blicke, auf der Tänzfläche etablieren. Dagegen sind männliche Follower bis heute (noch) eher selten. Männliche Leader haben oft eine „natürliche“ Sperre gegenüber dem Folgen. Sie empfinden die Tanzrolle als „weiblich“. So werden dem Follower (vermeintlich) typische, feminine Merkmale zugewiesen wie Passivität, Zuhören und Reagieren, während im Leaden Entscheidungen getroffen werden und „der Ton angegeben“ wird. Die geschlechtsspezifischen Zuordnungen sind kulturell geprägt und haben sich über Jahre so sehr in den Köpfen gefestigt, dass sie einen Bestandteil der Realität darstellen. Zum Glück ändert sich das mehr und mehr. Rollen-Switchen im Unterricht und ganze Kurse in der „anderen“ Rolle bauen unsere Geschlechtsmerkmal-spezifischen Vorurteile ab und stärken das Bewusstsein dafür, dass wir jede Rolle tanzen können. Über Jahrhunderte manifestierte Verknüpfungen werden kognitiv überschrieben. So werden Rollenwechsel für Tänzer_innen mit der Zeit „normal“. Dabei helfen auch die vielen „Rolemodels“ unter den internationalen Lehrer_innen, die beide Rollen tanzen. Der spielerische Aspekt vom Swing tritt mehr in den Vordergrund.
Aktive Follower sind 50 Prozent des Tanzpaares
Der Tonus vom „aktiven Follower“ bricht ebenfalls mit den alten Rollenklischees. Charaktereigenschaften wie Passivität treten ganz in den Hintergrund. Ein „aktiver Follower“ nimmt sich was sie_er braucht und ist nicht nur für sich, Frame, Connection, Körpermitte und Halt verantwortlich, sondern ein gleichberechtigter Teil des Tanzpaares. Der Follower beeinflusst den Tanz durch den eigenen Stil, Rhythmus, Tonnation sowie Variationen. Die Vorstellung von einer Tanzpartnerin als apathische Projektionsfläche oder Notwendigkeit, damit ein Move funktioniert, ist somit passé. Es gibt nicht mehr den einen (männlichen) Teil der führt und den (weiblichen) anderen der sich unterordnet, – beide teilen sich sowohl Verantwortung, als auch die damit einhergehende Freiheit.
World’s Fair 1939: Frauen die mit Frauen tanzen waren im Swing nicht ungewöhnlich:
Deine Rolle ist fluid
Tanzrollen sind nicht nur flexibel, sondern auch fluid. Wenn jeder leaden und jeder folgen kann, können wir in ein und demselben Tanz die Rollen wechseln. Es macht Spaß sich neue Moves auszudenken, um dem anderen die Rolle zu „klauen“ – ebenso wie der Überraschungsmoment „beklaut“ zu werden. Tänzer wie Lars sehen den Rollenswitch vor allem spielerisch: „Das gibt einem Tanz nochmal eine ganz andere Würze, wenn man mittendrin die Rollen wechseln kann.“ In dem Moment kommunizieren wir besonders miteinander. Und nicht zuletzt begünstigt das ein Aufweichen von überholten Rollenzuschreibungen. Jetzt können wir uns endlich auf das Wesentliche konzentrieren: Zusammen tanzen.