Vor einiger Zeit habe ich wieder einen Tanzworkshop besucht. Das bedeutet, ein ganzes Wochenende tanzen, tanzen und nochmals tanzen. Auf dem Stundenplan standen Charleston und Jazz für Solotänzer. Da ich sonst mit Tanzpartnern tanze, erhoffte ich mir dadurch mehr Sicherheit und mehr Kreativität als eigenständige Tänzerin. Rückblickend kann ich sagen, dass ich ganz viele tolle neue Figuren gelernt habe. Allerdings habe ich sie mittlerweile schon alle wieder vergessen. Jedoch stellte sich heraus, dass ich etwas Wertvolleres für mein Tänzerherz mit nach Hause nahm.
Vom Nachmacher zum Tänzer
Einen Workshop zu besuchen, bedeutet in erster Linie neue Schritte zu erlernen. Meist sind es Choreographien, die man zu einem bestimmten Lied immer wieder abtanzt. Du siehst dem/der TanzlehrerIn zu und versuchst das Gesehene erst einmal so gut wie möglich nachzumachen. Im Idealfall kommt zum technischen Bewegungsablauf, auch ein Gefühl dafür auf, wie sich der Schritt wirklich anfühlt oder zumindest ansatzweise anfühlen sollte. So entsteht aus marionettenhafter Nachahmung echtes Tanzen. Wie immer bei Workshops qualmte mir gegen Ende der Kopf und auch mein Körper schrie nach einer Pause. Das ist die süße Qual, die Tanzen eben so mit sich bringt. Allerdings schlenderte ich diesmal wahrhaftig beswingt und befreit aus der letzten Unterrichtseinheit. Verantwortlich dafür war der begnadete Profitänzer Remy Kouakou Kouame.
Remy und seine Stoßgebete
Strenge kombiniert mit Humor ist seine Devise. Wie viele TanzlehrerInnen, stellt Remy einen Move erst einmal vor. Nimmt ihn dann auseinander und bringt einem alles Schritt für Schritt bei. Danach beobachtet Remy aber genau, was von seiner ursprünglichen Figur bei seinen Schülern denn noch so übrigbleibt. Das Ergebnis ist oft sehr ernüchternd, für beide Seiten. Zudem hat er die Angewohnheit seine Kritik nicht nur zu verbalisieren, sondern sie auch körperlich darzustellen. Auf sehr amüsante Weise tanzt er seine Kritik einfach vor. Er hält tanzt den TeilnehmernInnen das Gesehene wie einen Spiegel vor, „Spiegeltanzen“ sozusagen. Das meiste sieht leider sehr ungelenk aus, sehr stakkato und hat mit Tanzen herzlich wenig zu tun. Mir gefällt diese Art der tänzerischen Selbstreflexion, die soviel Ernst aus der Sache nimmt. Im Anschluss an seine „Spiegeltanzen“, bekreuzigt er sich und wünscht allen mit ernster Miene viel Glück. Danach lässt er einen alles wiederholen, wiederholen, wiederholen, bis er das Gesehene wohl erträglich findet oder einfach nur kapituliert.
Why are YOU dancing?
In der letzten Unterrichtsstunde brach Remy dieses Schema allerdings auf. Es sollte nicht mehr um das Erlernen von neuem gehen. Er fragte uns zu Beginn der Stunde, was wir gerne möchten. Schnell wurde festgehalten, dass unser Gehirn und unsere Muskeln satt waren. Der Hunger auf coole, heiße Moves war in den letzten Tagen gestillt worden. Remy schlug daraufhin vor, uns mit dem Sinn des Tanzens auseinander zu setzten. Oder besser gesagt UNSERES Tanzens, jeder für sich, so ganz persönlich. „Why are you dancing?“ Eine ebenso simple, wie höchst persönliche Frage und mit so vielen verschiedenen Antworten, wie es wohl an TänzerInnen gibt.
Der Ausdruck von Freude, das Gefühl von Freiheit, die Liebe zur Swing Musik, sich als Individuum ausdrücken, wurden unter anderen als Gründe genannt. Gleichzeitig thematisierte Remy mit uns, wie diese Motivationen verloren gehen können, wenn man beim Tanzen plötzlich nur noch auf die Technik fixiert ist. Und man irgendwann nicht mehr zuhört, was einem die Musik gerade sagt. Und man zu viel über Richtig und Falsch nachdenkt und sich auf der Tanzfläche blockiert und gehemmt fühlt. Die Freude am ganzen Tanzen tritt dann leider oft in den Hintergrund.
So leicht wie Gehen
Remy wollte uns dabei helfen wieder etwas lockerer und leichter zu Tanzen. Für ihn ist Tanzen, ähnlich wie das Gehen, in erster Linie eine Verschiebung von Körpergewicht. Beim Laufen wechseln wir unser Gewicht von einem Bein auf das andere. Ein automatisierter Vorgang über den wir keine Sekunde nachdenken müssen. Tanzen unterscheidet sich nur insofern, als das der Gewichtswechsel an eine bewusste Entscheidung gekoppelt ist. Ich entscheide mich absichtlich mein linkes oder rechtes Bein zu belasten, um meinen Körper auf eine bestimmte Art und Weise zur Musik zu bewegen. Und genauso, wie sich Gehen oder Laufen sehr natürlich und leicht anfühlt und auch aussieht, sollte dies auch beim Tanzen der Fall sein.
Individualistische Lemminge
Deshalb standen nun einige Übungen an. Bei diesen sollten wir uns wieder daran zu erinnern, worum es für uns beim Tanzen ursprünglich mal ging. Zuerst schritten wir einfach nur ein wenig durch den Raum. Da jeder Mensch eine individuelle Art zu Gehen hat und sich zu Bewegen, sollten wir uns bewusst machen, dass dies auch beim Tanzen der Fall sein sollte. Was wir an diesem Wochenende immer wieder gehört haben, war: „Dance, but don’t imitate! Don’t do it like I’m doing it or anybody else. Do it your way!“ Also versuchte ich es so à la Frank Sinatra auch „My Way“ zu tun. Leichter gesagt als getan. Beim ersten Versuch schritten wir einfach nur beswingt durch den Raum, die Stimmung schien gut zu sein und jeder fühlte sich wohl ziemlich gut, so ganz individuell eben. Dann stoppte Remy die Musik. Alle sollten genau dort stehen bleiben, wo sie gerade waren. „Look at you! All of you are walking into the same direction!” Es stimmte. Unbewusst waren wir uns alle gegenseitig gefolgt und hatten uns wie die Lemminge gleichförmig in einen Bewegungsstrom begeben. Einer folgte dem anderem und tat auch dasselbe. Soviel also zur Individualität.
Laut, normal und leise
Remy gab uns aber trotzdem nicht auf. Nach einem weiteren Stoßgebet, steigerte er die Sache sogar. Er ließ uns selbst einen neuerlernten Schritt aussuchen, welchen wir dann in verschiedenen Modi tanzen sollten. Also in einem normalen Modus für die regelmäßigen Abschnitte eines Liedes, in einem leisen und kleinen Modus für die zurückgenommenen Passagen und in einem energiegeladenen und großen Modus für die lauten und betonten Liedpassagen. Er legte Musik auf, ließ uns dazu tanzen. Dabei sollten wir die unterschiedlichen Modi einbauen, je nach dem, was uns die Musik erzählte. Und trotz meiner vorherigen Entspanntheit, ging es dabei schon wieder irgendwie schief. Die Technik und mein Gehirn blockierten meinen natürlichen Bewegungsmodus. Ich fühlte wie ein Grobmotoriker, ungelenk und doof. Remy beobachtete unser Treiben und da er diesen Versuch wieder ziemlich schnell abbrach, scheine ich nicht die einzige mit Problemen gewesen zu sein. Er versuchte es noch einmal, trichterte uns wieder ein, einfach locker zu bleiben und auf die Musik zu hören.
Einfach mal locker machen
Für mich geschah plötzlich ein kleines Wunder. Denn obwohl mir solche Übungen meist ziemlich schwer fallen und ich mich dabei oft ziemlich unlocker fühle, konnte ich mich plötzlich fallen lassen. Ich hörte die Musik und mein Körper tat, was er dachte tun zu müssen und es fühlte sich richtig gut an. Ein Rückschritt hier, eine Drehung da. Neue Figuren fühlten sich auf magische Weise plötzlich ganz leicht und natürlich an. Meine Bewegungen führte ich je nach Gefühl mal ganz groß, mal ganz klein oder dann wieder ganz entspannt aus. Es war Fühlen, nicht Denken und ziemlich herrlich.
Diese Stunde war genau das, was ich zu diesem Zeitpunkt als Lindy Hopperin brauchte. Eine frustfressende Rückbesinnung auf das Essentielle. Bei allem tänzerischen Ehrgeiz, den man so im Laufe einer Lindy Hop Leidenschaft entwickelt, darf man beim Erlernen neuer toller Figuren trotzdem nicht vergessen, worum es einem eigentlich geht: einfach Spaß haben.